Löhne, 09.05.2023

„Prägend für unsere Arbeit“

Arzt, Psychotherapeut und Buchautor Dr. Arnold Retzer

Dr. Arnold Retzer (Bildmitte) mit Barbara Gast-Rosner und Nis Timm von der Paar-, Familien- und Lebensberatung der AWO bei dem Fachvortrag im Alten Wartesaal des Löhner Bahnhofs.

Arnold Retzer lockt mit seinem Vortrag über systemische Therapie zahlreiche Fachleute aus der Region an

In der Sozialen Arbeit ist er international bekannt und wertgeschätzt: Der promovierte Arzt, Psychotherapeut und Fachbuchautor Arnold Retzer war jetzt zu Gast im historischen Alten Wartesaal des Löhner Bahnhofs. Vor rund 6o Fachkräften aus dem Wittekindsland, Bielefeld und Gütersloh sowie den Kreisen Lippe und Minden-Lübbecke sprach er zum Thema „Wirkmechanismen in systemischer Therapie“.

Arnold Retzer besuchte das erste Mal den Kreis Herford. Vorträge hält er weltweit, jedoch inzwischen mit einem Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum. „Ich mache das gerne, auch häufig, aber es wird weniger. Mittlerweile suche ich mir aus, wo ich Vorträge halte“, erzählte der 70-Jährige.

Als Fachbuchautor und Lehrtherapeut begleitet er seit Jahrzehnten die Ausbildung vieler systemischer Therapeuten und Berater. Über seine Medienauftritte und Bücher, die zu Bestsellern wurden, erreicht er auch eine breite Öffentlichkeit. Mit zu den bekanntesten gehören: „Lob der Vernunftehe. Eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe“ und „Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken“.

Die in Löhne beheimatete Paar-, Familien- und Lebensberatung des AWO-Kreisverbandes Herford hatte die Veranstaltung organisiert. „Es ist schön, dass so viele pädagogischen Fachleute aus der Region gekommen sind“, freute sich Paartherapeutin Barbara Gast-Rosner, Leiterin der AWO-Beratungsstelle.

1977 hatte Arnold Retzer als Therapeut den ersten Klienten. Seiner Beobachtung nach haben sich im Laufe der Jahrzehnte die Ansprüche der Menschen deutlich verändert, sowohl an sich selbst wie auch gegenüber anderen. „Es hat da eine ungeheure Steigerung gegeben. Wir sind heute geprägt von hohen Erwartungen und der Vorstellung, was alles möglich sein könnte“, berichtete Retzer.

Die überhöhten Erwartungen werden verstärkt von dem gesellschaftlichen Umfeld und dem scheinbar modischen Mantra, man sei angeblich seines eigenen Glückes Schmied. Als Folge nicht erfüllter, zu hoher Erwartungen könnten ausgeprägte, individuelle Schuldgefühle entstehen oder sich verstärken. Retzer nennt ein Beispiel: „Früher hatte man Glück, wenn man Glück hatte. Heute gibt’s den Anspruch, dass man das Glück selbst herbeiführen müsse. Das macht dann den Alltag nicht einfacher.“

Seiner Aussage nach hatte er früher selbst übergroße Vorstellungen davon, was man als Arzt und Therapeut alles bewegen könne. Inzwischen sei er bescheidener geworden. Diese Einsicht erzählte er mit gut gelaunter Selbstironie.

„Bescheidenheit“ kann auch in anderen Lebenssituationen weiterhelfen. Zum Beispiel sprach er hinsichtlich einer Partnerschaft von „resignativer Reife“. Damit meint er die Einsicht, dass man andere Menschen nur bedingt oder gar nicht ändern könne und dass es in jeder langen Beziehung Themen gebe, die immer wieder Streit entfachen. Trotzdem ließen sich auch solche Schwierigkeiten überwinden, unter anderem mit Verständnis, Zuneigung und mitunter auch respektvollem Humor.

Der Vortrag im Alten Wartesaal war informativ für die Gäste, aber auch für ihn selbst. Seiner Aussage nach freut er sich immer auf das Feedback aus dem Plenum, weil es die Plausibilität seiner Thesen hinterfrage oder auch stärke. „Meine Tätigkeiten als Therapeut und als Vortragender existieren nicht im luftleeren Raum, sondern im gesellschaftlichen Kontext“, sagt er. Die Vorträge und das Feedback helfen ihm, seine Arbeit und Sichtweisen weiterzuentwickeln, somit sind sie eine Art Prozessbausteine auf dem Weg zu mehr Erkenntnis.

Auch eine Therapie ist ein Prozess. Zum Beispiel kommen hilfesuchende Menschen oftmals in die Paartherapie mit der festen Vorstellung, dass ihr ´Problem´ in ihrem Sinne gelöst werden könne. In der systemischen Therapie, wie sie Arnold Retzer versteht, geht es jedoch um das Bewusstwerden von Unterschieden. Dazu gehört unter anderem, dass die an dem ´Problem´ Beteiligten ihre mitunter wechselhaften Rollen erkennen und auch mögliche positiven Seiten des ´Problems´ betrachten.

„Arnold Retzer ist mit seiner systemischen Therapie und seiner Sicht auf Partnerschaft und Paartherapie prägend für unsere Abend“, erzählt Paartherapeut Nis Timm von der AWO-Beratungsstelle. Eigentlich war diese Veranstaltung bereits im vergangenen Jahr geplant, als die Beratungsstelle ihr 40-jähriges Jubiläum feierte. Doch aufgrund der Corona-Pandemie musste der Vortrag verschoben werden.